Vom belgischen Politiker Paul-Henri Spaak (1899-1972) stammt das Zitat: „Die Dummheit ist die sonderbarste aller Krankheiten. Der Kranke leidet niemals unter ihr. Aber die anderen leiden.“ Angesichts der Ereignisse in der Silvesternacht und der Vielzahl der Angriffe auf Einsatz- und Rettungskräfte möchte man meinen, dass die von Spaak besagte Krankheit pandemische Züge anzunehmen scheint. Wie anders als mit Dummheit mag man es sich erklären, dass Menschen andere Personen, die sich im Hauptberuf oder ehrenamtlich für andere einsetzen, angreifen oder attackieren – egal, ob es sich dabei um Polizeibeamte, Feuerwehrleute oder Einsatzkräfte des Rettungsdienstes handelt. Doch so einfach ist es dann doch nicht.
In Berlin haben die Angriffe auf die Feuerwehr eine neue, erschreckende Qualität erreicht: Fahrzeuge und Einsatzkräfte wurden gezielt mit Pyrotechnik beschossen. Eine Einsatzkraft wurde durch Pfefferspray und Gewaltanwendung verletzt. Ein Einsatzfahrzeug der Feuerwehr wurde von Vermummten aufgebracht und geplündert. Am Ende haben allein aus den Reihen der Berliner Feuerwehr 15 Verletzte zu Buche geschlagen, eine Einsatzkraft musste stationär in eine Klinik aufgenommen werden.
Nun werden Rufe nach härteren Strafen oder nach einem generellen Verbot von Böllern laut. Dies ist verständlich, geht aber am eigentlichen Problem vorbei. Die rechtlichen Bestimmungen sind faktisch vorhanden: §223 StGB regelt die Körperverletzung. Sollten dabei „gefährliche Gegenstände“ zum Einsatz kommen, wie z.B. Pyrotechnik, Pfefferspray oder andere, müssen sich die Täter wegen gefährlicher Körperverletzung verantworten (§224 StGB). Dann reicht das Strafmaß von mindestens sechs Monaten Freiheitsentzug bis zu zehn Jahren. §113 StGB stellt den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte unter Strafe – wobei hier bereits die Androhung von Gewalt geahndet werden kann. Nach einer Gesetzesänderung 2011 erstreckt sich der Kreis der Vollstreckungsbeamten (richtigerweise)auch auf Feuerwehrleute und Kräfte des Rettungsdienstes und Katastrophenschutz. Das Problem sind nicht die rechtlichen Werkzeuge, sondern oft allein die Tatsache, dass die Täter nicht ermittelt werden können. Das wird auch eine Strafverschärfung nicht ändern.
Die Strafverfolgung behandelt letzten Endes nur die erschreckenden Symptome einer generellen Verrohung unserer Gesellschaft. Denn Gewalt gegen Einsatzkräfte ist inzwischen trauriger Alltag in unserem Land – egal, ob in der Großstadt oder auf dem flachen Land. Das Spektrum ist dabei sehr heterogen, von verbalen Angriffen, wie Beleidigungen und Drohungen, über nonverbale Angriffe, wie Bespucken, Tritte oder Schläge, bis hin zum Drohen mit bzw. dem Einsatz von Waffen. Es fängt beim alkoholisierten Patienten an, der nicht mehr in der Lage ist, zu erkennen, dass ihm die Besatzung des Rettungswagens nur helfen möchte. Oder bei Otto Normalverbraucher, der Feuerwehrleute anfährt, weil er kein Verständnis für eine erforderliche Absperrung hat („Ich muss da jetzt aber durch!“). Oder bei gewaltbereiten Jugendlichen, die einfach Spaß daran haben oder eine Mutprobe darin sehen, Einsatzkräfte mit Flaschen oder Steinen zu bewerfen. Oder bei Menschen, die kein Verständnis dafür haben, dass z.B. auch Geflüchteten geholfen wird. Oder bei Bürgern, die dem Staat und seinen Organen generell nicht mehr vertrauen, und die ihren Frust und ihre Verbitterung nun an den Einsatzkräften auslassen. Gründe gibt es unzählige – Rechtfertigungen keine!
Es fügt sich in ein Gesamtbild einer Gesellschaft, in der Menschen allein wegen eines Parkplatzes aufeinander losgehen oder gar von Schusswaffen Gebrauch machen. Oder in der sich Kunden im Supermarkt um die letzte Küchenmaschine aus dem Sonderangebot prügeln. Es ist eine Gesellschaft, in welcher sich Respekt vor dem anderen generell zu einem rarer werdenden Gut zu entwickeln scheint. Dahinter steckt oft ein reiner Egoismus: Ich zuerst! Aber ich will das jetzt!
Im Kleinen fängt das schon bei den allgemeinen Umgangsformen an. Ich finde es erschreckend, wie häufig Verkaufspersonal angeblafft wird („Fünf Brötchen!“) – ohne Gruß, ohne ein „Bitte“, ein „Danke“ oder sonst ein freundliches Wort. Wie Menschen von anderen ausgelacht und verspottet werden, weil sie Arbeiten übernehmen, für die sich viele andere zu schade sind. Dabei tragen gerade diese Verspotteten mit ihrem Tun oft erst zu einer funktionierenden Gesellschaft bei.
Das grundsätzliche Problem bleibt: Benimm, Anstand und Respekt lassen sich nicht verordnen! Die Frage, wie wollen wir zusammenleben und miteinander umgehen, ist eine gesamtgesellschaftliche. Sie fängt bei jedem Einzelnen von uns an – ganz banal, ganz einfach, unmittelbar, vor Ort. Und wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, haben wir hier alle Handlungsbedarf – der eine mehr, der andere weniger. Mich eingeschlossen.
Kants kategorischer Imperativ mag uns hier eine Hilfestellung sein: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die zu zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Oder, wie der Volksmund einfacher formuliert: „Was Du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem andern zu.“
Wenn wir diese einfache Regel – bei allem Stress, bei allem Un- oder Übermut, bei aller Verärgerung oder Verbitterung, bei allen herrschenden Problemen – wieder stärker leben würden, im Kleinen wie im Großen, wären wir an vielen Stellen einen großen Schritt weiter. Wir sollten es zumindest probieren.
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