"Was war jetzt das?" - Das habe ich mich gefragt, als die Meldung über die Ticker lief, dass Jewgeni Prigoschin, Anführer der berüchtigten Söldnertruppe Wagner, seinen Marsch auf Moskau gestoppt hat. War es wirklich der Versuch eines Aufstandes? Ging es darum, Druck auf die russische Militärführung auszuüben? Sollte Putin gezwungen werden, seinen Verteidigungsminister Sergei Schoigu auszutauschen? Oder wollte sich Prigoschin am Ende tatsächlich nur der Einvernahme seiner Truppen in das russische Militär verweigern? Letzteres hatte er zumindest in einer Audiobotschaft verkündet.
Viele Fragen bleiben auch Tage nach den Ereignissen offen. Auch die Frage, was nun aus Prigoschin und seiner Truppe wird. Was passiert mit seinen Soldaten, sollte er im belarussischen Exil bleiben? Gehen er und seine Leute tatsächlich straffrei aus? Oder trifft ihn am Ende die russische Vergeltung? Er wäre beileibe nicht der Erste, der auf seltsame Weise den Tod finden würde. Welche Auswirkungen haben die Vorgänge auf den weiteren Verlauf von Putins Krieg in der Ukraine?
Ungeachtet dessen bliebe noch ein völlig anderes Szenario denkbar: Der große Bluff. Eine als Putsch inszenierte Truppenverlegung von Prigoschin und seiner Soldateska nach Belarus mit der Option auf kurzem Weg einen Angriff auf Kiew zu starten, um so ukrainische Kräfte im Norden des Landes zu binden und Selenskyjs Gegenoffensive zu schwächen. Dies erscheint mir angesichts der vielen Unwägbarkeiten, welche dieses Manöver auch innenpolitisch mit sich bringen könnte, zwar eher unwahrscheinlich - aber was kann man in Zeiten des Krieges mit Sicherheit ausschließen?
In der Zwischenzeit scheinen sich die meisten Experten einig zu sein: Putin ist geschwächt. Der Rückhalt in der Führung wäre deutlich schwächer gewesen als zunächst vermutet. Gerüchteweise hätten sogar hochrangige Funktionäre zwischenzeitlich Moskau verlassen. Gleichzeitig habe der ungehinderte Vormarsch der Wagner-Truppe deutlich gemacht, dass der russische Staat das Gewaltmonopol in der Fläche nicht hat aufrechterhalten können. Nicht ohne Grund hat die russische Regierung die Privatarmee des Tschetschenen Ramsan Kadyrow um Unterstützung gebeten. Das mag die russische Bevölkerung in Teilen verunsichert haben, es dürfte auf jeden Fall jedoch ein Motivationsschub für das ukrainische Volk und seine kämpfende Truppe gewesen sein.
In mir lösten die Ereignisse ambivalente Reaktionen aus. Auf der einen Seite die Hoffnung, dass die Putin-Ära ein vorzeitiges Ende finden könnte und damit vielleicht auch eine politische Friedenslösung für die Ukraine in Sicht käme. Auf der anderen Seite die Sorge, dass Putin die Nerven verlieren könnte und die Frage, was nach Putin käme. Ein im Machtvakuum und Chaos versinkendes Russland kann jedenfalls nicht im Interesse der internationalen Staatengemeinschaft sein. Die Tatsache, dass von jedermann käufliche Söldnergruppen sich Zugriff auf das (atomare) Waffenarsenal Russlands verschaffen könnten, finde ich ebenfalls beunruhigend. Zumal mit einem Waffenstillstand oder Friedensvertrag die Situation im ukrainisch-russischen Grenzgebiet nicht bereinigt sein dürfte. Die Konflikte zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen dürften noch lange Zeit weiterschwelen. Hier bedarf es einer Strategie, wie diese „neue Zeit“ gestaltet und die Situation sowohl in Russland als auch in den Grenzregionen stabilisiert werden kann.
Eines hat Prigoschins Marsch Richtung Kreml jedoch deutlich gemacht: Wenn es für Putin wirklich bedrohlich wird, zeigt er sich zu Verhandlungen bereit. Auch wenn diese über Mittelsmänner wie Lukaschenko erfolgen. Diejenigen, die daraus ableiten, dass man mit Putin nun direkt über ein Ende des Ukrainekrieges verhandeln könne, dürften sich jedoch täuschen. Der russische Präsident reagiert ausschließlich auf den Druck von innen. Die wachsende Zahl an Embargos und Sanktionen hat ihn bis dato kalt gelassen, ebenso diplomatischer Druck aus dem Ausland. Erst Militärkolonnen, auf dem Weg nach Moskau, haben auf ihn Eindruck gemacht. Um eine wirkliche Veränderung zu bewirken, hat dabei jedoch eines weitestgehend gefehlt: Das Signal der eigenen Bevölkerung an Putin, dass sie nicht mehr gewillt ist, ihn und seinen Krieg zu unterstützen oder zumindest dessen Auswirkungen weiter still zu erdulden. Es gab zwar vereinzelte Solidaritätsbekundungen mit Prigoschin, eine kritische Masse ist daraus jedoch nicht erwachsen. Solang eben dieses Signal jedoch fehlt, wird Putin unbeirrt weiterkämpfen und töten lassen. So lange wird er weiter auf Zeit spielen, darauf setzen, dass die Folgen des Krieges, allem voran die erzeugten Fluchtbewegungen Richtung Westen die EU destabilisieren. So lange gehen das Sterben, das Leid und die Zerstörung weiter. Egal, ob Putin nun als geschwächt angesehen wird oder nicht.
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