Lange habe ich überlegt, ob ich zur Causa Aiwanger überhaupt etwas schreiben soll. War hin- und hergerissen. Habe abgewogen. Habe geschwankt zwischen „Wer schweigt, stimmt zu!“ und „Don´t feed the troll!“. Wollte warten bis sich die erste Aufgeregtheit gelegt hat. Habe die weiteren Auftritte Aiwangers verfolgt. Aber jetzt ist das Maß voll. Der Opflsoft läuft quasi über.
Rückblende. Mallersdorf-Pfaffenberg in den 80ern. Da ist dieses Foto. Schwarz-weiß. Es zeigt einen Oberstufenschüler einer höheren niederbayerischen Lehranstalt. Er steht stramm in der ersten Reihe. Akkurater Seitenscheitel. Pointiertes Oberlippenbärtchen. An irgendwen erinnert er mich. … Ich komme gleich darauf. … Ich glaube, es muss der Aiwangers Hubert sein.
Dann hat es da dieses Flugblatt gegeben. Darin ist von „Vaterlandsverräter“ die Rede. Vom „Vorstellungsgespräch“ im KZ Dachau. Vom „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“, den man gewinnen könne. Alternativ den „Aufenthalt im Massengrab“ oder ein „kostenloser Genickschuss“. Vom „Vergnügungsviertel in Auschwitz und Nebenlager“.
So. Und hier hat der Spaß ein Loch. Ich war in den Gedenkstätten Flossenbürg und Buchenwald, habe im Rahmen einer Studienfahrt das Stammlager Auschwitz und das Vernichtungslager Birkenau besucht. Ich stand vor Spielsachen und Kleidung ermordeter Kinder, welche für die Nazis keinen wirtschaftlichen Nutzen brachten. Ich stand vor dem Berg Menschenhaare, die man den Häftlingen abgeschoren hat, um sie als Rohstoff zu verwerten und Mäntel, Socken und Decken daraus herzustellen. Ich stand vor den Stufen zu den gesprengten Gaskammern und Krematorien. Und über allem stand die Frage, was müssen die armen Seelen gedacht haben, die diese Stufen hinabgehen mussten, und am anderen Ende qualmten eben jene Schornsteine, von denen im Flugblatt die Rede ist.
Das Flugblatt ist in seiner Deutlichkeit, in seiner Eindeutigkeit, in seiner Akkuratesse – zumal auf Schreibmaschine getippt – kein Produkt einer affektierten Handlung. Kein schneller Ausdruck eines Unmutes. Es ist nicht vergleichbar mit der Kritzelei eines Hitler-Bärtchens, wie man sie gerade aktuell im Wahlkampf häufiger auf Plakaten findet. Es ist nicht vergleichbar mit filmischen Hitler-Parodien, wie von Christoph Maria Herbst in „Der Wixxer“ oder in Dani Levys „Mein Führer – die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler“.
Dass das Flugblatt, welches man in Hubert Aiwangers Ranzen gefunden hat, lediglich mit dem Halten eines Referates geahndet wurde, mag so gewesen sein. Dass es eine Reihe weiterer Vorwürfe gegen ihn gibt, vom Anstimmen des Horst-Wessel-Liedes über das Zeigen des deutschen Grußes, das Einüben von Hitler-Reden vor dem Spiegel oder das Mitführen von Hitlers verbotenen schriftlichen Ergüssen, lasse ich für die weitere Betrachtung außen vor. Ich war nicht dabei. Ich kenne die Motive mancher Menschen, die sich heute erinnern mögen, nicht. Ob das Verhalten damals Zeugnis der Unreife Aiwangers, das trotzige Aufbegehren eines Teenagers oder tatsächliche Überzeugung gewesen ist, kann ich nicht beurteilen. Dass der Inhalt strafrechtlich relevant gewesen sein könnte, ist ebenfalls unerheblich, da dies aufgrund der Verjährungsfristen des Strafrechtes (rechtlich) ohne Belang ist.
Eines ist jedoch – zumindest für mich – tatsächlich von Bedeutung. Die Frage, wie Hubert Aiwanger mit den gegen ihn gerichteten Vorwürfen jetzt umgegangen ist. Die Frage, wie er selbst das Ganze einordnet. Damit sind wir im Jetzt und Heute.
Niederbayern. Sommer 2023. Das Flugblatt wird publik – und Aiwanger taucht ab. Er, der sonst in den sozialen Netzwerken zu wohnen scheint, verstummt. Dann lässt er erklären: "Ich habe das fragliche Papier nicht verfasst und erachte den Inhalt als ekelhaft und menschenverachtend. Der Verfasser des Papiers ist mir bekannt, er wird sich selbst erklären." Wenig später bekannte sich sein Bruder dazu, der Verfasser gewesen zu sein. Angeblich aus einer Verärgerung heraus. Fragen bleiben offen: Schreibt man im Affekt so akkurate Pamphlete? Warum wurde das Flugblatt in Huberts Ranzen gefunden? Warum wurde dort überhaupt danach gesucht? Wieso kam damals nicht bereits auf, dass sein Bruder der Verfasser hätte sein können?
Später erklärte Aiwanger: "Es ist auf jeden Fall so, dass in der Jugendzeit das ein oder andere so oder so interpretiert werden kann, was als 15-Jähriger hier mir vorgeworfen wird. Aber auf alle Fälle, ich sage: seit dem Erwachsenenalter, die letzten Jahrzehnte, kein Antisemit, kein Extremist, sondern ein Menschenfreund." Auch hier lasse ich außen vor, dass sich Aiwanger im Laufe seiner Erklärungen jünger - und damit unreifer - macht als er tatsächlich gewesen ist. Ich lasse außen vor, ob er seiner Aussage folgend, dann vor dem Erwachsensein Antisemit oder Extremist gewesen ist. Für mich ist wichtig, wie er sich heute sieht: Weder noch. Vielmehr ein Menschenfreund.
"Ich bereue zutiefst, wenn ich durch mein Verhalten in Bezug auf das in Rede stehende Pamphlet oder weitere Vorwürfe gegen mich aus der Jugendzeit Gefühle verletzt habe. Meine aufrichtige Entschuldigung gilt zuvorderst allen Opfern des NS-Regimes, deren Hinterbliebenen und allen Beteiligten an der wertvollen Erinnerungsarbeit." Manche der weiteren Vorwürfe weist er zurück, andere kann er weder „dementieren noch bestätigen“. Was hier nach dem Ansatz von Reue, Demut und Entschuldigung klingt, war jedoch nur ein kurzes Intermezzo.
Immer stärker geht Aiwanger seitdem in den Angriff über. Er wirft den Medien eine Kampagne vor. Von „Schmutz-Kampagne“ ist die Rede, von „Denunzianten“, von einem „Tribunal“. Er selbst habe das Gefühl, er solle „politisch und persönlich fertiggemacht werden“. Und dann ist er im vollen Bierzelt wieder in seinem Element. Natürlich habe auch er in seiner Jugend „Scheiß und Mist“ gemacht. Allerdings fände er es nicht annehmbar, „dass aus dem jugendlichen Alter Dinge hervorgegraben werden – so ärgerlich sie sind – und zu sagen: 'Jetzt musst du über die Klinge springen.' Wenn diese Maßstäbe Einzug halten, dann Gnade uns Gott.".
Plötzlich das Eingeständnis, dass auch er in seiner Jugend nicht untadelig gewesen ist. Damit verändert er sukzessive das Narrativ: Er ist einer von ihnen. Von den Anhängern im Bierzelt. Mit denselben Fehlern. Nicht er werde angegriffen, sondern quasi alle Anwesenden. Von den Medien, von den Linken, den Grünen, den Woken. Und dagegen müsse man sich zur Wehr setzen. Das Bierzelt tobt. Hubsi-, Hubsi-Rufe werden laut. Der Volkstribun sonnt sich in seiner Anhängerschaft – und die Umfragen schnellen nach oben.
Sein Verhalten ist purer Populismus. Das ist bei Aiwanger nicht neu. Aber es nimmt quantitativ zu. Frei nach dem Motto: „Darf's ein bissl mehr sein?“. Um seine Anhängerschaft bei Laune zu halten, muss er – wie auch die AfD – die Dosis immer weiter erhöhen, muss sein Zungenschlag noch schärfer werden.
Das war bei Corona so, als er meinte, man müsse „aufpassen, dass wir nicht in eine Apartheidsdiskussion kommen.“ Das war so als er einen kostümierten Indianer auftreten ließ. „Wer mit Winnetou ein Problem hat, hat selbst moralisch Dreck am Stecken und Stroh im Kopf“, twitterte er dazu – und beendete seine Rede mit: „Es lebe Bayern, Deutschland, Winnetou und die Meinungsfreiheit.“ Beim Gillamoos konstatiert er: „Unser Hauptproblem in Deutschland ist diese Bundesregierung“. Das Volk müsse entscheiden und „nicht ein paar schräge Ideologen in Berlin“. In Erding wettert er gegen den Entwurf eines Gesetzes, welches so nicht beschlossen wurde. Da war von „Berliner Chaoten“ die Rede, welche den „Arsch offen“ hätten und er rief dazu auf, dass „die schweigende große Mehrheit dieses Landes“ sich die „Demokratie zurückholen“ müsse. Bei Lanz spricht er davon, dass in unserem Land nur noch eine „formale Demokratie“ herrsche.
Wer nicht seiner Meinung ist, handele ideologisch und undemokratisch. Damit ist er sprachlich völlig entgleist und bewegt sich irgendwo zwischen Trump und AfD. Es ist ein Verhalten, welches eines stellvertretenden Ministerpräsidenten nicht würdig ist. Aber es wird goutiert.
Das Hetzen gegen „die da oben“ lässt übersehen, dass er selbst zur (politischen) Elite zählt. Winnetou, Gendersternchen, Wolf und Co. lenken davon ab, dass es in Bayern an Wohnungen fehlt, dass man die Energiewende versäumt hat und dass das Leben in unserem schönen Bundesland für viele nicht mehr bezahlbar ist.
Die Causa Aiwanger zeigt, wie erfolgreich die Populisten in unserem Land sind. Wie sehr sie die Stimmung im Land, die Grenzen des Denk- und Sagbaren bereits verschoben haben. Kein Wunder, dass Friedrich Merz und andere nun auf diesen Zug aufspringen. Am Ende lacht die AfD. Sie hat neue Verbündete und muss nicht mehr allein die Temperatur bei den „Wutbürgern“ hochhalten. Das ist der eigentliche Skandal!
Im Ergebnis wird der Ton rauer, die Stimmung aggressiver. Wer nicht in diesem Konzert des Populismus mitspielt, wird verspottet, verhöhnt oder im herrschenden Wahlkampf am Infostand angegangen oder bespuckt. Es fliegen bereits die ersten Steine.
Täter werden zu Opfern stilisiert. Demokraten sollen sich fürchten.
Genau so hat es schon einmal begonnen…
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