Nun ist es also tatsächlich geschehen. Die selbsternannte „Alternative“ stellt den ersten Landrat in Deutschland. Bei der Stichwahl am gestrigen Sonntag konnte sich deren Kandidat mit 52,8 Prozent knapp gegen CDU-Mann Jürgen Köpper (47,2 Prozent) durchsetzen – und dies, obwohl Letzterer auch von den Grünen, der FDP, der SPD und sogar der Linken unterstützt worden ist. Sofort folgte großes Entsetzen und Empörung. Wie zu erwarten, wird in den sozialen Netzwerken den Wählern im Landkreis Dummheit oder Ignoranz vorgeworfen. Ebenso den Nichtwählern. Da tauchen sie wieder auf, die Begrifflichkeiten des „dummen Ossis“ und des „Besser-Wessis“. Von Fassungslosigkeit, Scham und Schande ist die Rede. Diese ersten Reaktionen sind verständlich, sie helfen jedoch nicht – im Gegenteil, sie verschärfen das bestehende Problem.
Während meiner Wehrdienstzeit habe ich gelernt, dass man vor einer Beschwerde erst eine „militärische Nacht“ verstreichen lassen muss. Dies soll (Über-)Reaktionen im Affekt verhindern. Deshalb möchte ich erst heute versuchen, die gestrige Wahl einzuordnen. Welche Schlüsse kann oder sollte man aus dieser Wahl ziehen?
Die Wahlbeteiligung ist im Vergleich zum ersten Wahlgang um 10,5 Prozentpunkte gestiegen. Das ist – ungeachtet des Ausgangs – positiv, wenngleich sich vier von zehn wahlberechtigten Thüringern immer noch der Wahl enthalten haben. Der Begriff der Wahlenthaltung ist dabei falsch. Egal, ob ich zur Wahl gehe oder nicht, egal, welche Partei ich wähle, ich nehme Einfluss auf das Ergebnis. Die erste Frage lautet also, warum hat es ein breites Bündnis aller zur Wahl angetretenen demokratischen Parteien nicht geschafft, stärker zu mobilisieren als es der AfD gelungen zu sein scheint?
Robert Sesselmann will laut Wahlkampfflyer „Gestalten statt verwalten!“ und hat unter anderem mit „Friedensverhandlungen und ein[em] Ende der Sanktionspolitik“, „einer Energiepolitik mit Sinn und Verstand“und „einer[r] sofortigen Abschiebung krimineller und abgelehnter Asylbewerber“ geworben. Alles Dinge, auf die ein Landrat in Deutschland, egal wo lebend und welcher Partei angehörend, keinerlei Einfluss hat. Und doch hat er damit die Wahl gewonnen. Die zweite Frage sollte also lauten: Geht es überhaupt noch um Inhalte? Falls ja, warum ist es dann nicht gelungen, die AfD inhaltlich zu stellen? Falls nein, worum ging es dann – und wie muss man darauf reagieren?
Die einen sehen die Verantwortung bei der Ampel-Regierung in Berlin, die sich auf offener Bühne streitet und scheinbar keine Lösungen für die Probleme und Fragen unserer Zeit parat hat. Die, so der Vorwurf, die Mehrheit der Bevölkerung aus den Augen verloren hätte. Die anderen suchen die Schuld bei einem sich immer stärker ausprägenden Populismus der Union unter Friedrich Merz. Dessen Partei sich von der AfD im Bundestag öffentlich Heuchelei vorwerfen lassen muss, da sie nach 16 Jahren Kanzlerschaft Angela Merkels nun in der Opposition plötzlich die Ansichten der Rechtsaußenpartei vertreten würde. Schließlich steht Aiwanger in der Kritik, der in dasselbe Horn wie die AfD stößt, wenn er fordert, dass sich die schweigende Mehrheit im Land die Demokratie zurückholen müsse – und damit leichtfertig, demokratisch gewählte Abgeordnete, die Regierung und ein geordnetes Gesetzgebungsverfahren delegitimiert. All das transportiert von Medien, die hinter großen Schlagzeilen Auflage und Klickzahlen wittern. Die dritte Frage wäre daher: Was muss noch passieren, damit wir erkennen, dass unser demokratisches System zunehmend unter Druck gerät? Dass uns – gerade in komplexen Zeiten – plumper Populismus nicht weiterbringt. Dass aktuell eine Rückkehr zur Sachdebatte so wichtig wäre, wie nie. Und dass auch die Medien hier eine Verantwortung tragen?
Mit Sicherheit sind die genannten Punkte, die Uneinigkeit in einer Regierung und die Übernahme populistischer Verhaltensweisen und Rhetorik Wasser auf die Mühlen der AfD gewesen. Und sie werden es weiter sein. Aber sie allein waren meines Erachtens nicht ausschlaggebend. Das größte Problem sehe ich aktuell darin, dass alle demokratischen Parteien zu viel „senden“ und zu wenig „empfangen“. Jede demokratische Partei sucht mit großem Aufwand zu erklären, warum genau ihre Politik die richtige ist. Dabei verkennen wir, dass wir viele Menschen bereits verloren haben – und täglich weitere verlieren. In den Parteien als Mitglieder. In der politischen Debatte als Interessierte und Wähler. In der Gesellschaft als sich dazugehörig fühlender Teil. Wir verlieren sie an alternative Medien, an Populisten, an Propagandisten, welche schon längst ihre eigenen Kanäle, und Medien mit eigenen Wahrheiten und Realitäten geschaffen haben. Vielleicht müssen wir für unsere Demokratie Klinken putzen. Uns erst einmal dem Unmut der gefühlt Ungehörten aussetzen und ihnen zuhören. Die nächste Frage wäre daher: Wie schaffen wir es, die Menschen wieder zurückzugewinnen? Wieder stärker mit ihnen in den direkten Kontakt zu treten? Ihnen weniger zu erklären und mehr zuzuhören?
Wer nun glaubt, dass sich der gewählte AfD-Mann in der Realpolitik schnell entzaubern wird, da er nicht liefern kann, was er versprochen hat, wird sich irren. Herr Sesselmann wird immer Schuldige finden, welche er für diese – angesichts der oben genannten Versprechen – zwangsläufig erwartbare Nichterfüllung verantwortlich machen kann: Die Mitglieder des Kreistages, in welchem seine Partei mit neun von 40 Mandaten weit von einer Mehrheit entfernt ist. Die aus Sicht der AfD „links-grün versiffte“ Landesregierung unter Ramelow. Die Ampel-Regierung in Berlin. Oder die Bürokratie der EU. Und wenn er bei (freiwilligen) Sozialleistungen kürzen wird, dann geschieht dies natürlich nur, da er die angeblich verfehlte Politik seines Vorgängers auszubügeln habe. Es wird
ihm nicht schaden, je nach Rhetorik und Agitation kann daraus paradoxerweise gar eine noch größere Zustimmung erwachsen. Die Frage lautet also: Wie sollen die anderen Fraktionen mit dem neuen Landrat umgehen? Wie wappnen wir uns gegen die zu erwartende „Schwarze-Peter-Rhetorik“?
Wenn man sich die aktuellen Umfrageergebnisse der AfD ansieht, dann war die Wahl eines AfD-Mannes in ein solches Amt lediglich eine Frage der Zeit. In Thüringen hält sich die AfD seit 2019 auf Landesebene in den Umfragen stabil bei über 20 Prozent. Zuletzt erreicht sie in der Sonntagsfrage, wie auch in Sachsen, einen Wert von 28 Prozent. In Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern ist die Situation mit 26 bzw. 25 Prozent nur bedingt besser. Es bleibt somit zu befürchten, dass es nicht bei diesem einem Mandat bleiben wird. Dass man am Ende vielleicht sogar über Minderheitsregierungen auf Landesebene wird nachdenken müssen, wenn man eine AfD-Regierung oder zumindest eine AfD-Beteiligung noch verhindern möchte. Das Ergebnis wären instabile Regierungen, welche sich jede Mehrheit neu suchen müssten. Ein gefundenes Fressen für die AfD, die nicht müde wird, anderen Unfähigkeit vorzuwerfen. Somit wäre als Frage zu klären: Wie bereiten wir uns auf etwaige weitere Erfolge der AfD vor? Im schlimmsten Falle auf Landesebene?
Denn eines ist klar: Die AfD wird nicht lockerlassen. Das „Wir werden sie jagen!“ Gaulands richtete sich nur zuvorderst gegen Angela Merkel – es richtet sich gegen alle Demokraten in unserem Land. Und die Wahl in Sonneberg wird die Propagandisten und Populisten dieser Partei weiter beflügeln. Umso bedeutender ist die Aufgabe aller gesellschaftlichen Akteure, möglichst besonnen auf die Wahl in Sonneberg zu reagieren, welche mit Sicherheit eine Zäsur darstellt. Eine aufgebrachte und medial transportierte Hysterie und die Beschimpfung von Wählern oder Nichtwählern schaden in dieser Situation.
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