In diesen Tagen wird intensiv über eine mögliche Impfpflicht diskutiert. Angesichts der Entwicklung der vierten Welle werden die Stimmen, welche sich dafür aussprechen, lauter: aus den Reihen der Ministerpräsidenten (u.a. Söder (BY), Kretschmann (BW), Bouffier (HE), Günther (SH) oder Wüst (NW)), aus Teilen der Wissenschaft und aus zahlreichen Verbänden wie dem Marburger Bund, dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, dem Bundesverband der kommunalen Senioren und Behinderteneinrichtungen oder der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin und zahlreichen weiteren mehr. In einer repräsentativen Befragung des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur sprachen sich zuletzt 63 Prozent der Bevölkerung für eine Impfpflicht aus, wobei ich davon ausgehe, dass dieser Anteil stark mit einer hohen Impfquote korreliert. 30 Prozent sind gegen eine Verpflichtung, sieben Prozent machten keine Angaben. Renommierte Juristen wie Staatsrechtler Ulrich Battis, Verwaltungsrechtler Hinnerk Wißmann oder der Rechtswissenschaftler Franc C. Mayer halten eine solche Pflicht für verfassungskonform und mit dem Grundgesetz vereinbar.
Aktuell sind rund 68 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft – und es ist das eingetreten, was die Wissenschaft bereits im Juli prophezeit hat. Die Prognose lautete schon damals: Wenn wir es nicht schaffen, die Impfquote signifikant zu erhöhen, wird uns die vierte Welle im Herbst/Winter mit voller Wucht treffen. Das RKI hat vorhergesagt, was im November eingetreten ist. Auch der Europadirektor der Weltgesundheitsorganisation WHO hatte vor der jetzigen Welle gewarnt, ebenso wie der Virologe Drosten und zahlreiche andere.
Man hätte somit wissen können, was passieren wird. Man setzte stattdessen weitestgehend auf die Bereitschaft der Bevölkerung, sich impfen zu lassen. Diese jedoch stagnierte. Angesichts der anstehenden Bundestagswahl hielt man sich bezüglich einer damals noch mehrheitlich abgelehnten Impfpflicht zunächst bedeckt. Und die Inzidenzen steigen und steigen – im Landkreis Mittelsachsen heute auf 2.208,5. Die Zahl der Intensivbetten hingegen sinkt – auf zuletzt knapp über 1.600. Das Problem sind dabei vielerorts nicht die Betten – sondern das fehlende Pflegepersonal. Nicht nur die Bundeswehr leistet an vielen Stellen schon Amtshilfe: in den Kliniken, in den Gesundheitsämtern, in den Testzentren oder bei der Verlegung von Intensivpatienten in andere Bundesländer. Erste Kliniken setzen Verwaltungspersonal zur Unterstützung auf den Stationen ein. In Bayern gilt erneut der Katastrophenfall. Die weitere Entwicklung ist ungewiss. Das nahende Weihnachtsfest mit den zu erwartenden Familienfeiern lässt in diesem Zusammenhang nicht viel Gutes erahnen.
An vielen Stellen wurde zu lange gezaudert und gezögert. Es wurde darauf gehofft, dass manche Menschen sich doch noch mit einer Bratwurst als Belohnung oder wegen der Einschränkungen durch die 2G-Regeln impfen lassen. Den Durchbruch brachte es nicht. Stattdessen werden die Stimmen der Impfgegner:innen und Corona-Leugner:innen lauter und aggressiver. Am Rande von Demonstrationen kommt es zu Übergriffen auf Polizei und Medienvertreter:innen. Die sächsische Sozialministerin Köpping wird gar in ihrem Privathaus bedroht. Die Angriffe auf Impf- und Testzentren mehren sich. Demonstrationen werden zum Teil trotz entsprechender Verbote durchgeführt oder es wird gegen Auflagen verstoßen. Gleichzeitig werden propagierte Verschwörungstheorien immer schriller und die Videos mancher Youtuber:innen, die „etwas Großem auf der Spur sind“ immer abstruser.
Mein persönlicher Eindruck ist, dass es bei den Protesten an vielen Stellen gar nicht mehr um die Inhalte, geschweige denn den Austausch und das Abwägen von Argumenten geht.
Der Bielefelder Rechtsprofessor Mayer sagt: „Die Freiheit der Einzelnen endet da, wo Freiheit und Gesundheit anderer in Gefahr sind – das ist hier der Fall, wenn die Impfkampagne nicht gelingt.“ Genau das, sind viele zu akzeptieren nicht bereit. Sie skandieren lautstark „Freiheit“, meinen damit jedoch ausschließlich ihre eigene und versuchen nicht einmal, ihren Egoismus zu kaschieren. Es sind zum Teil dieselben Menschen, die einerseits lautstark „Diktatur“ brüllen und Meinungsfreiheit einfordern, gleichzeitig aber alle, die nicht ihrer Meinung sind, beleidigen, einschüchtern, bedrohen oder attackieren. Für (zu) viele, wenngleich nicht alle, der Protestierenden geht es inzwischen um ein Aufbegehren gegen den Staat, gegen „die da oben“, gegen „das System“.
Damit stellen diese Menschen nichts weniger als die Systemfrage. Und damit rückt eine andere Frage unweigerlich in den Fokus: Ist der Staat in der Lage und Willens, sein Gewaltmonopol in dieser Situation durchzusetzen? Oder konkreter: Schafft es der Staat, die Sicherheit von Ärzt:innen und Mitarbeiter:innen in den Impf- und Testzentren, wie auch der Einrichtungen selbst, zu garantieren? Kann er, seine Repräsentant:innen vor den Übergriffen und Einschüchterungsversuchen einer lautstarken Minderheit schützen? Ist er in der Lage, Verbote (auch nach einer gerichtlichen Überprüfung) und die Einhaltung von Auflagen durchzusetzen? Und das alles auch in der Fläche? Wenn man sich manche Ereignisse der letzten Tage und Wochen so ansieht, mag man vereinzelt daran zweifeln.
„Die Freiheit der Einzelnen endet da, wo Freiheit und Gesundheit anderer in Gefahr sind.“ Das gilt es zu akzeptieren und das muss der Staat im Zweifel durchsetzen können. Durch bloßes Zureden und Zuwarten wird dies vermutlich nicht erreicht werden. Das haben die letzten Monate gezeigt. Sie haben zugleich deutlich gemacht, dass sich das Lager derer, die nicht bereit sind, obigen Grundsatz anzuerkennen, sich im gleichen Zeitraum weiter radikalisiert hat.
Es stehen schwierige Entscheidungen an. Gleichzeitig muss man dabei immer auch differenzieren: zwischen denen, welche aus welchen Gründen auch immer nicht geimpft werden können oder die tatsächlich rationale Bedenken gegen eine Impfung haben, aber zum sachlichen Dialog bereit sind, auf der einen Seite und einer zunehmend radikalen Minderheit auf der anderen Seite, der es schon lange nicht mehr (nur) um die Corona-Politik geht.
Die einen darf man nicht stigmatisieren bzw. man muss mit ihnen den Dialog suchen, sie versuchen zu überzeugen und sie zu gewinnen. Den anderen muss man viel deutlicher zeigen, dass es in einem Gemeinwesen „rote Linien“ gibt – auch geben muss –, welche nicht übertreten werden dürfen und deren Missachtung der Staat auch sanktioniert. Sollten sie dennoch bewusst überschritten werden, muss der Staat in der Lage und Willens sein, dies auch konsequent umzusetzen. Gerade zum Schutz der Freiheit, so paradox das auch klingen mag.
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