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Der Westen und der Krieg in der Ukraine – zwischen Biedermann und Pudels Kern


Seit rund sechs Wochen herrscht in fast allen Landesteilen der Ukraine Krieg. Das Land hält dem Aggressor Putin seitdem hartnäckig stand, was viele Beobachter, auch ich, in dieser Form nicht erwartet haben. Tag für Tag erreichen uns seitdem neue erschütternde Bilder von zerbombten Häusern und zerstörter Infrastruktur, von Flücht­lin­gen, meist Frauen und Kin­­dern, die vor allem in Polen und der Republik Moldau Schutz su­chen. Zuletzt die Bilder aus But­scha, welche grausamste Kriegsverbrechen der russischen Armee an der Zivilbevölkerung do­ku­mentieren sollen. Gleichzeitig werden die Kritik und die For­derungen des ukrainischen Präsidenten Selenskyj am und an den Westen immer lauter und ein­dring­licher.


Die Welt ist seit dem 24. Februar 2022 eine andere geworden. In seiner Fernsehansprache und der Erklärung seiner „militärischen Spezialoperation“ wurde offenbar, was des Pudels… Ver­zei­hung… Putins Kern ist. Sie zeigte das Bild des unerbittlichen „Kalten Kriegers“, der das Ende der Sowjet­union auch nach gut 30 Jahren nicht verwunden hat. Seit diesem Tag lässt Putin seine Waffen, seine Artillerie und seine Bomber sprechen – mit verheerenden Folgen. Dieser Krieg ist Putins Krieg. Zweifelsohne. Wirklich ohne Zweifel?


Der Vorwurf an den Westen lautet, man habe ihn zu lange gewähren lassen. Man habe sich zu sehr von Putins Russland abhängig gemacht. Habe sich nicht an getroffene Vereinbarungen gehalten. Die Augen vor seinen wahren Absichten ver­schlo­ssen. Man wäre nach dem Zu­sam­men­bruch des Ostblocks der Überheblichkeit anheimgefallen. Deshalb trage der Westen eine nicht unwesentliche Mitschuld an den jetzigen Ereignissen.


In Teilen stimmt das. So hat Bundespräsident Steinmeier eingeräumt, dass wir mit unserer Politik ge­schei­tert sind, dass auch er als Außenminister zu lange am Nordstream-Projekt festgehalten habe. Ja, wir ha­ben uns abhängig gemacht. Haben darauf vertraut, dass russisches Öl und Gas – wie selbst während des Kal­ten Krieges – auch künftig sicher und preiswert zur Verfügung stehen. Wir sind dem Glau­ben ver­­fallen gewesen bzw. waren davon überzeugt, dass in einer globalisierten Welt allein schon die engen wirt­schaft­li­chen Ban­de friedenssichernd sind, da jede Aggression allen Beteiligten ei­nen immens hohen Preis abverlangen würde – so, wie wir es nun gerade zu erkennen beginnen. Wir haben Putin zu wenig in die Schranken gewiesen. Haben manche seiner Aussagen nicht wahrhaben wollen – oder schlicht nicht glauben. Dabei hat er mit seinen Drohungen nicht hinter dem Berg ge­halten. Gleichzeitig trat er immer wieder kumpelhaft und in Luxus schwelgend auf. Wer hat nicht die Bilder vor Augen: Putin scherzend mit Merkel, Schröder und Co. Putin in Prunk, Glanz und Gloria alter Paläste. Es erinnert ein wenig an Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“. Dort heißt es: „Scherz ist die drittbeste Tarnung. Die zweitbeste: Sentimentalität. Aber die beste und sicherste Tar­nung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Die glaubt niemand.“


Spätestens als Putin 2014 die Krim völkerrechtswidrig besetzt und annektiert hat, hätte das ein Weckruf sein müssen. Er verhallte weitestgehend. Wir hatten uns nicht einmischen wollen. Hatten Angst, dass wie auch immer geartete Interventionen oder umfassende Sanktionen ne­ga­tive Folgen für uns selbst nach sich ziehen würden. Wir haben weggesehen. Blinder als blind ist der Ängstliche, / Zitternd vor Hoffnung, es sei nicht das Böse / Freundlich empfängt er`s, / Wehrlos, ach, müde der Angst, / Hoffend das Beste . . . / Bis es zu spät ist.", legt Frisch seinem Gottlieb Biedermann in den Mund. Und so haben auch wir das Beste gehofft. Und damit vielleicht dem russischen Brandstifter die Zündhölzer gereicht. Jetzt ist es zu spät!


Trotz allem rechtfertigt dies in keiner Weise den Angriff auf und den Einmarsch in die Ukraine. Es ist keine Entschuldigung für das Unheil und die Zerstörung, das Morden und den Tod, welchen Putins Truppen in weite Teile des Nachbarlandes gebracht haben – und dessen Folgen auf Jahrzehnte wirken werden. Auch über die Ukraine hinaus.


Nun überschlagen wir uns mit immer neuen Sanktionen. Gemeinsame wissenschaftliche Projekte werden auf Eis gelegt. Firmen brechen ihre Kontakte nach Russland ab. Es scheint schon fast ein wenig en vogue zu sein, zu zeigen, dass man sich auch „gegen Russland“ in Stellung bringt. Völlig ungeachtet, ob dies sinnvoll ist oder einen tatsächlichen Einfluss auf Putins künftige Po­li­tik haben dürfte. Vieles wirkt dabei aktionistisch. Wenn nun in Russland kein Playmobil mehr verkauft wird, McDonalds seine Lokale schließt oder Disney seine Geschäfte aussetzt, dürfte dies Putin egal sein. Es trifft, wenn überhaupt, die einfachen Leute. Aber es wird sie nicht in Scharen auf die Straßen treiben, um Putin zu stürzen. Nicht in Zeiten, in denen schon das Hochhalten eines leeren Blattes Papier reicht, um von der Polizei geschlagen, verhaftet und angeklagt zu werden.


Völlig aus der Spur geraten wir dann, wenn russlandstämmige Kinder auf deutschen Schulhöfen zusammengeschlagen werden. Wenn Ladengeschäfte russischer Mitbürger:in­nen mit antirussischen Parolen beschmiert oder angegriffen werden. Wenn die Frage, wie man es mit Putin hält, zur neuen Gretchenfrage unserer Gesellschaft wird. Wenn zum Teil Menschen ihren Arbeits­platz verlieren, weil sie nicht das „rechte Zeugnis“ ablegen wollen. Eine aufgeheizte, in Teilen fast schon pogromartige, Stimmung gegen alles Russische bringt uns nicht weiter, hilft den Menschen in der Ukraine nicht und wird nichts an Putins Aggression ändern.


Wir sind aktuell auf einem gefährlichen Weg, den auch die Medien schleichend mitgehen: Aus Putins Krieg wurde innerhalb weniger Wochen ein russischer. Gar ein Krieg „der Russen“. Aber das ist er nicht. Es ist und bleibt Putins Krieg – gegen die Ukraine, gegen den Westen, gegen die Werte, welche eine Demokratie auszeichnen. Es ist ein Kampf der Systeme, der stellvertretend in der Ukraine geschlagen wird.


Mit Aktionismus werden wir die Versäumnisse, das Wegsehen und Zaudern der letzten Jahre nicht wettmachen können. Wir vergessen dabei, dass es auch eine Zeit nach Putin, nach seinem Krieg, geben muss und geben wird. Und vieles, was aktuell an Kontakten, an Kooperation und Zusammenarbeit abgebrochen worden ist, wird sich so schnell nicht wieder herstellen lassen. Gleiches gilt für verloren gegangenes Vertrauen.


Das Einzige, was Putin wirklich weh tun könnte, wäre ein Öl- und Gasembargo. Aber das würde uns in unserem Wohlstand und in unserer Bequemlichkeit massiv erschüttern. Hätte massive Auswirkungen auf Wirtschaft – und Gesellschaft. Also fließen sie weiter die russischen Rohstoffe. Und damit unser Geld zur Finanzierung seines, Putins, Kriegs. Also weg von den russischen Rohstoffen? Importstopp für russische Energie? Am besten sofort?


Das hätte unkalkulierbare Folgen. Bei dem oft genannten wirtschaftlichen Einbruch von circa drei Prozent des BIP handelt es sich zunächst nur um die unmittelbaren Folgen. Was dies langfristig nach sich ziehen würde, ist schlicht nicht abzusehen. Dafür gibt es zu viele unbekannte Variablen, wie auch der ehemalige Wirtschaftsweise Peter Bofinger warnt. Ein nachhaltiger Wohlstandsverlust wäre die wahrscheinlichste Folge. Wer nun sagt, unsere Freiheitswerte stehen über dem Wohlstand, übersieht dabei, dass viele Menschen in unserem Land bereits jetzt mit steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen an ihre wirtschaftlichen Grenzen geraten. Der Staat allein wird dies nicht dauerhaft auffangen können, kann er doch jetzt schon nur soziale Härten abmildern. Und, das sollte man ebenfalls nicht vergessen, auch bei uns im Land korreliert die Zustimmung zu unserer Demokratie mit der wirtschaftlichen Situation des Landes.


Ähnliches dürfte auch für unsere europäischen Nachbarn gelten. Die Frage ist, ob eine solche Destabilisierung des Westens in der aktuellen Situation zielführend wäre. Die beschrieben Situation ist mit Sicherheit unbefriedigend. Dennoch sind wir gut beraten, mit kühlem Kopf und klarem Verstand an die Sache heranzugehen. Die Ukraine zu unterstützen, ohne selbst Kriegspartei zu werden, ist m.E. richtig. Sich um die Geflüchteten aus der Ukraine zu kümmern, moralische Verpflichtung. Und wir sollten weiter daran arbeiten, uns zügig und sukzessive - jedoch nicht überstürzt - aus der russischen Abhängigkeit zu lösen.

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