„Denk ich an Deutschland in der Nacht, | Dann bin ich um den Schlaf gebracht, | Ich kann nicht mehr die Augen schließen, | Und meine heißen Tränen fließen“. So bedrückend schildert Heinrich Heine als Exilant in Paris in seinen „Nachtgedanken“ sein Inneres.
So schlimm sieht es in mir beileibe nicht aus, und doch finde ich manche Entwicklungen der letzten Monate bedrückend und Vieles, was sich am Horizont abzeichnet, besorgniserregend. Vor allem aber ist es die Geschwindigkeit, mit der diese Prozesse im schlimmsten Fall ablaufen werden. Wobei man Deutschland dabei nicht isoliert von internationalen Ereignissen und Entscheidungen sehen darf.
30. Juni 2024. In Frankreich finden die Neuwahlen zur Assemblé nationale statt. Der Rassemblement Nationale (RN) der Rechtspopulistin Marine Le Pen gewinnt, wie schon bei der Europawahl deutlich hinzu, verfehlt aber die absolute Mehrheit. In der Zeit bis zum zweiten Wahlgang am 07. Juli nimmt der Wahlkampf nochmals an Schärfe zu. Es kommt zu Demonstrationen für die Demokratie und zu Protesten gegen die Regierung. Vereinzelt kommt es zu Ausschreitungen zwischen beiden Lagern. Überschattet wird die Schlussphase des Wahlkampfes von einer Messerattacke in einem Pariser Banlieu, welche vom RN intensiv dazu genutzt wird, die Themen Sicherheit und Zuwanderung in den Fokus der Debatte zu stellen. Am Ende zahlen sich der bürgerliche Anstrich, den Le Pen ihrer Partei u.a. mit der Aufkündigung der Zusammenarbeit mit der AfD verpasst hat und die Unser-Land-zuerst-Rhetorik, welche man von vielen Populisten kennt, aus: Der RN gewinnt die Wahl. Macron ist gezwungen, den Premierminister und das Kabinett auszutauschen. Es ist das erste Mal, das Rechtsextremisten das (gesellschaftlich gespaltene) Frankreich regieren.
Der Wahlausgang belastet das ohnehin zuletzt angeschlagene Verhältnis und die Zusammenarbeit zwischen den beiden Führungsnationen Europas. Im Europaparlament haben sich die Gegner der Europäischen Einigung formiert, bilden Fraktionen, die an Einfluss gewinnen. Ursula von der Leyen lässt sich Stimmen von Rechtsaußen erneut zur Kommissionspräsidentin wählen. Die Populisten fordern im Gegenzug Zugeständnisse für eine Verschärfung der Asylpolitik und eine bessere Abschottung der Außengrenzen durch FRONTEX. Die Aktionsradien ziviler Seenotretter werden massiv eingeschränkt, die Möglichkeiten für Grenzkontrollen an den Binnengrenzen Europas gelockert. Die Rechtspopulisten Europas werten den gewachsenen Einfluss auf europäischer Ebene als Erfolg und gehen mit stolzgeschwellter Brust gestärkt in die anstehenden Wahlen.
Am 1. September 2024 gewinnt die AfD die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen und wird mit 30 und 26 Prozent stärkste Kraft. In Sachsen ist eine Regierung ohne die AfD rechnerisch nicht möglich. Selbst CDU, SPD und Grüne finden zusammen keine Mehrheit. Eine Koalition zwischen CDU und BSW wird von der Union abgelehnt. In Thüringen zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Die CDU erklärt sich zu einer Koalition mit der AfD bereit, unter der Bedingung, dass Höcke nicht Ministerpräsident wird. Die AfD droht daraufhin mit einer Koalition mit dem Bündnis Sarah Wagenknecht, welches grundsätzlich Gesprächsbereitschaft signalisiert. In Sachsen droht dasselbe, woraufhin die CDU mit der AfD koaliert um eine „Regierung der Populisten“ zu verhindern. Daraufhin lenkt auch die Thüringer CDU ein und wählt Höcke zum Regierungschef. In den folgenden Monaten verschärft sich der Tonfall gegenüber der Ampel-Regierung in Berlin noch einmal deutlich. Mittel für Extremismusprävention, kulturelle Einrichtungen und Integrationsprojekte werden empfindlich gekürzt. In weiten Teilen Deutschlands finden Demonstrationen gegen den vollzogenen Rechtsruck statt. In Leipzig und Rostock kommt es dabei zu Übergriffen mit mehreren Verletzten. Am 22. September gewinnt die AfD in Brandenburg die nächste Landtagswahl. Es bildet sich eine Minderheitsregierung aus CDU und SPD. Deren Vorhaben werden AfD und BSW jedoch regelmäßig blockiert. Gleichzeitig werfen die beiden Parteien der Regierung Unfähigkeit, Untätigkeit und Versagen vor.
04. November 2024. In den USA wird Donald Trump erneut zum Präsidenten gewählt. Unmittelbar nach seiner Vereidigung verfügt er per Dekret einen umfassenden Abzug von US-Truppen aus Europa und friert Unterstützungsleistungen für die Ukraine ein. Die EU und die NATO reagieren mit Entsetzen. Eine Ausweitung der Zahlungen der EU wird von den Populisten verhindert. Die ohnehin schon prekäre Lage der Ukraine verschlechtert sich zusehends. Die russische Armee kann deutliche Geländegewinne erzielen und dringt weit in das Landesinnere vor. Im ukrainischen Winter zeigen sich die dramatischen Folgen der gezielten Zerstörung von Kraftwerken und Infrastruktur. In den von Russland besetzten Gebieten machen Berichte von Gräueltaten und Massakern die Runde.
Februar 2025. Die Situation in der Ukraine ist verheerend. Fernwärme und Strom sind nahezu in der gesamten Ukraine nur noch sporadisch verfügbar. Es fehlt an Lebensmitteln und Medikamenten. Vermittlungsversuche scheitern. Die Ukraine kapituliert im März 2025. Die Regierung verlässt das Land. Russland besetzt zwei Drittel der Ukraine und setzt in der Rumpf-Ukraine eine prorussische Regierung ein. Im ganzen Land kommt es zur Verhaftung vermeintlicher Terroristen. Putin geht dabei gezielt gegen die ukrainische Intelligenz vor, führt einen Kampf gegen die ukrainische Kultur. Millionen Menschen flüchten Richtung Westen, darunter unzählige Binnenflüchtlinge. An der Grenze zu Polen spielen sich unsägliche Szenen menschlichen Leids ab.
In der EU jagt ein Sondergipfel den nächsten. Es gibt ergebnislose Verhandlungen über Verteilungsschlüssel und die Frage, wie diese Menschen versorgt werden können. Währenddessen durchbrechen die Flüchtlinge die polnischen Sicherungsanlagen. In den kommenden Wochen strömen mehr als fünf Millionen Menschen Richtung Westen. Notfallunterkünfte platzen aus allen Nähten. Die Hilfsorganisationen und die ehrenamtlichen Helfer stoßen an ihre Grenzen. Politische Entscheidungsträger wissen nicht mehr, wie sie eine Versorgung und Unterbringung der Geflüchteten sicherstellen können. Die AfD erzielt mit einer scharfen „Grenzen dicht!“-Rhetorik neue Höchstwerte in den Umfragen.
Verschärft wird die Situation im Juni 2025 durch ein verheerendes Unwetter und Jahrhunderthochwasser, welches sich in einem breiten Band von Rheinland-Pfalz über Hessen, Sachsen und Sachsen-Anhalt bis nach Brandenburg zieht. Auch das Ahrtal ist erneut schwer getroffen. In einzelnen Ortschaften haben Tornados eine Schneise der Verwüstung geschlagen. Der Katastrophenschutz kommt an seine Grenzen, zu groß ist das Schadengebiet. Die Rufe nach Unterstützung werden laut. Viele Menschen fühlen sich im Stich gelassen. AfD und BSW schüren die aufgeladene Stimmung zusätzlich an. Wegen der vielen Geflüchteten seien weder Geld noch Helfer da, um der eigenen Bevölkerung zu helfen, so heißt es.
In einigen Landesteilen kommt es zu Unruhen. Es gibt Tote und Verletzte. Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte aber auch Behörden und Parlamente nehmen schlagartig zu. Nur mit Mühe konnte die Polizei eine Erstürmung des Bundestags verhindern. Die Bilder aus Berlin erinnern an die Erstürmung des Kapitols 2021.
September 2025. Bei der Bundestagswahl holt die AfD die absolute Mehrheit. Während des Wahlkampfs kam es zu Angriffen auf Politiker der Ampel-Parteien in ungeahntem Ausmaß. Nur noch wenige Menschen trauen sich auf die Straße, um gegen die neue Regierung zu protestieren. Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird ausgesetzt. Gezielt werden Positionen in Politik und Justiz mit AfD-Anhängern besetzt, um den „gesunden Menschenverstand und den Volkswillen“ zur Geltung kommen zu lassen. Videos von der Jagd auf Menschen machen in den sozialen Netzwerken die Runde. Die AfD-Regierung kündigt die ersten Maßnahmen zur Remigration an. Viele Menschen, vor allen Dingen Bürger mit Migrationshintergrund, verlassen panisch das Land.
Im Bereich der Gesundheitsversorgung und der Pflege kommt es in der Folge zu massiven Engpässen. Ebenso im Bereich der Ver- und Entsorgung. In Industrie und Wirtschaft kommt es zu gravierenden Problemen. Der DAX fällt ins Bodenlose. Milliardenwerte sind mit einem Mal vernichtet. Das Land fällt in eine Rezession, welche selbst die Wirtschafts- und Finanzkrise, sowie die Corona-Krise in den Schatten stellt. In den anderen Staaten Westeuropas geschieht ähnliches.
24. Februar 2026. Genau vier Jahre nach dem russischen Überfall besetzt die russische Armee die Republik Moldau. Die EU geschwächt im Inneren und zerstritten nach außen kann nur noch tatenlos zusehen. Vom einstigen Haus Europas steht nur noch eine Ruine.
Währenddessen kündigt der Wetterbericht für Deutschland neue Unwetter an und irgendwo in unserem Land wird Jagd auf Geflüchtete gemacht…
Zum Glück ist das alles nur Fiktion. Undenkbar. Geradezu absurd. Oder?
Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.
Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.
Das bekannte Zitat des deutschen Pfarrers Martin Niemöller war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Anklage und Mahnung zugleich. Angeklagt wurde die schweigende Mehrheit, die dem Treiben der Demokratiefeinde zu lange tatenlos gegenüberstand. Und es ist eine Mahnung, dass sich dergleichen nicht wiederholen darf.
Noch haben wir die weitere Entwicklung in der Hand.
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